Bücherecke

In der Bücherecke rezensiert unsere Literaturpädagogin Franziska Khan  Neuerscheinungen auf dem Kinderbuchmarkt. Im Monat Dezember 2018: 

Jörg Mühle
Zwei für mich, einer für dich
2018 Moritz Verlag, €12.95, 32 S., ab 4 J.

Es gab viele gute Publikationen 2018. Und doch ist eine so herausragend gewesen, dass sie mir besonders in Erinnerung geblieben ist. Mit originellem Witz und intelligenter Pointe lässt Autor Jörg Mühle in Zwei für mich, einer für dich den Leser teilhaben an einem besonderen Moment im Leben der Freunde Wiesel und Bär, ohne den moralischen Zeigefinger zu heben.

Cover_zwei für michSchon das Vorsatzpapier versetzt den Leser an Ort und Zeit der Handlung. Mühle braucht nur ein paar Bäume und Vögel, einen kleinen Käfer oder eine etwas scheue Eule, die aus einem Baum herauslugt, mit Wachs und Tusche zu zeichnen und schon ist ein Eindruck voller Harmonie kreiert. Auch die Geschichte beginnt harmlos, fast rührend, als Bär (mit gelber kleiner Umhängetasche) auf dem Nachhauseweg gemütlich spazierend drei Pilze findet, die sein WG-Mitbewohner Wiesel sogleich zubereitet. Auch hier zeigt Mühle sein Talent für Stilsicherheit und platziert gekonnt einige Einrichtungs­gegenstände in dem entwickelten Setting: Pfannen, die an Ästen über einem Herd hängen, und andere Küchengeräte lassen an ein liebevolles Miteinander denken und erahnen, dass hier zwei sehr gerne miteinander wohnen und leben.

Nachdem nun Bär den Tisch gedeckt hat, ahnt der Leser noch nicht, dass sich gleich ein heftiger Streit entzünden wird. Denn wem von beiden steht der dritte Pilz zu? Ein brillanter Schlagabtausch beginnt, der den Leser köstlich unterhält und für beide in einem Dilemma endet. Die Freunde können sich nicht einigen. Als die Emotionen überkochen, schnappt sich ein Fuchs einen Pilz und urplötzlich ist der Streit vergessen: „Frechheit!“, riefen sie und „Voll ungerecht!“ und „Ist denn das zu fassen?“

An dieser Stelle wird nicht nur die Redewendung „Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte!“ verständlich, sondern auch, was wahre Freundschaft ausmacht: Aber dann wünschten sie sich guten Appetit. Die Pilze schmeckten ihnen wunderbar. Harmonie heißt eben nicht, dass es keinen Streit geben darf, sondern dass allen Gefühlen Raum gegeben wird statt sie zu unterdrücken.

Jörg Mühle verabschiedet den Leser mit einer genialen Pointe. Zum Nachtisch serviert Wiesel saftige, große Erdbeeren und entzückt ruft Bär aus, dass sie seine absolute Leibspeise seien. Zu sehen sind drei Erdbeeren … Mühle überlässt es mit einem offenen Ende den Leserinnen und Lesern, wie die Geschichte ausgeht. Und liefert ihnen damit eine ausgezeichnete Einladung zum gemeinsamen Weiterdenken.

Kann es das geben, ein Kinderbuch des Jahres? Ist bei einer schwindelerregenden, jährlichen Zahl von über 8000 Neuerscheinungen von deutschsprachigen Kinder- und Jugendbüchern eine solche Kür nicht ungerecht?

Nein, ist es nicht. Zwei für mich, einer für dich ist mein Buch des Jahres 2018.

Franziska Khan, Dezember 2018

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Archiv

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T. Engelhardt, M. Osberghaus / S. Hesselbarth (Ill.): Im Gefängnis
Rezension Im Gefängnis_Engelhardt Osberghaus_August 2018

Rezension aus dem Monat Oktober 2017 (Franziska Khan):
Helga Bansch: Achtung Ziesel
Antje Damm: Plötzlich war Lysander da
Rezension_Bansch-Achtung Ziesel_Damm-Plötzlich war Lysander da_Oktober 2017

Rezension aus dem Monat Januar 2017 (Eva Stollreiter):
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Rezension_Michael Roher_Der Fluss_Januar 2017

Rezension aus dem Monat August 2016
Anja Tuckermann / Tine Schultz (Ill.): Alle da!
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Rezension aus dem Monat April 2016
Toon Tellegen / Ingrid Godon (Ill.): Ich denke
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Rezension aus dem Monat November 2015 (Jana Nopper)
María Julia Díaz Garrido: Als die Vögel vergaßen, Vögel zu sein
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Rezension aus dem Monat September 2015
Heinz Janisch: Wo kann ich das Glück suchen
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Rezension aus dem Monat Juli 2015
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Rezension aus dem Monat Mai 2015
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Rezension aus dem Monat März 2015
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Patrick George: Eins, zwei, drei … Zahlen
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Rezension aus dem Monat Januar 2015
Kristina Calvert, Eva Muggenthaler: Lügen Ameisen eigentlich?
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